Der Sternenweg in Asturien

"Du hast am Himmel die Sternenstraße gesehen 
und das bedeutet, dass du nach Gallaecia ziehen sollst, 
und dass nach dir alle Völker, von Meer zu Meer wandernd, 

dorthin pilgern werden, bis zum Ende der Zeiten." 
(Historia Karoli Magni et Rotholandi)

In der traditionellen Überlieferung zur Entdeckung des Apostelgrabes in Santiago de Compostela heißt es, dass Pelayo (Pelagius) um das Jahr 818 mehrere Nächte lang ein wundersames Strahlen über einem Hügel beobachtete, einen Glanz, der von zur Erde schweifenden Sternen ausging. Diese Erscheinung hatte Pelayo im Wald mit dem Namen Libredón. Der Legende nach wurde auf diesem Sternenfeld das Grab des Apostels Jakobus der Ältere entdeckt. Heute befindet sich dort Santiago de Compostela, das Ziel von Millionen Pilgern aus ganz Europa.

 

Bereits einhundert Jahre zuvor ritt der gleichnamige asturische Held Pelayo (Pelagius) durch die Wälder bei Liberdón am Monte Sueve. Das liegt etwa 350 km östlich von Santiago de Compostela. Pelayo wurde der erste König des asturischen Königreichs. Unter einem seiner Nachfolger (Pelayos Urenkel Alfonso II.) entstand die Legende von der Entdeckung des Jakobusgrabes. Alfonso II. hatte gute Kontakte zum Königshof Karls des Großen. Der Überlieferung nach ist Jakobus dem Frankenkönig Karl in einem Traum erschienen. Jakobus zeigte Karl dem Großen in diesem Traum den Sternenweg und prophezeite, dass alle Völker dorthin pilgern werden - bis zum Ende der Zeiten. Die Legende findet sich in der Historia Karoli Magni et Rotholandi (Pseudo-Turpin) als Teil der Sammelhandschrift Liber Sancti Jacobi aus dem 12. Jahrhundert. Dieser Kodex enthält auch weitere außerordentlich aufschlussreiche Zeugnisse rund um den Jakobskult in Santiago de Compostela: Liturgische Gesänge und Texte, Erzählungen von Wundern während der Pilgerreisen, die wundersame Geschichte der Überführung des Jakobus und eine Wegbeschreibung für vier verschiedene Routen.

 

Die Pilgerschaft auf dem Jakobsweg ist im Liber Sancti Jacobi erstmals in einer umfassenden Weise, fesselnd, detailreich und praxisorientiert beschrieben. Man könnte den Kodex als Werbeschrift-Sammlung für einen Besuch Santiagos ansehen. Doch selbst in diesem weit verbreiteten mittelalterlichen Pilgerführer endet die Reise nicht etwa am vermeintlichen Grab des Apostels. Sie führt weiter ans Meer, dem eigentlichen weltlichen Ziel der Pilgerschaft. Von Meer zu Meer wandernd, werden die Völker dorthin pilgern, bis zum Ende der Zeiten – so heißt es dort.

 

Im Liber Sancti Jacobi wird die Muschel als Kennzeichen der Pilgerschaft hervorgehoben. Die zwei Schilde der Muschel symbolisieren darin die zwei Aspekte der Nächstenliebe; „das heißt Gott über alles und den Nächsten wie sich selbst zu lieben.“ Während der Reise war die Jakobsmuschel Kennzeichen der Pilger und gewährte einen gewissen Schutz. Vor dem Nordtor der Kathedrale in Santiago wurden Muscheln vom „Ende der Welt“ dargeboten. Man konnte dort auch nachgebildete Muscheln aus Silber, Blei und Zinn erwerben. Auch in Gräbern von Jakobspilgern fand man die Jakobsmuscheln. Wer zu Lebzeiten den Weg gegangen war, der konnte die Muschel wohl als „Eintrittsbillet in den Himmel“ ansehen. Das wäre eine Fortführung der Vorstellungen von der Reise nach dem Tod, wie sie schon in vorchristlicher Zeit mit dem „Ende der Welt“ verbunden waren.

Jakobusweg und Sternenweg werden oftmals synonym verwendet. Doch der Sternenweg übte bereits weit vor der christlichen Pilgertradition eine besondere Faszination auf die Menschen aus. Schon lange vor der vermeintlichen Entdeckung der Überreste des Apostels Jakobus pilgerten Menschen nach Fisterra (Finisterre), um hier am „Ende der Welt“ der Sonne zu huldigen und die Verbindung zum Himmel zu erfahren. Sie wurden zu diesem Ort geleitet, indem sie dem Lauf der Milchstraße, der Sterne und Planeten am Himmel folgten, also von Ost nach West. Das kann einer der Gründe sein, warum der Jakobusweg auch Sternenweg genannt wird. 

 

Die Ursprünge des Sternenweges gehen auf vorchristliche, ja sogar prähistorische Zeiten zurück, bei denen Felsen- und Steinkulte eine herausragende Bedeutung hatten. Der Jakobskult, mit der Vorstellung einer Predigttätigkeit des Apostels Jakobus in Hispanien und mit der erfundenen Geschichte der Grablegung des Jakobus in Santiago de Compostela, geht auf kirchenpolitische und herrschaftspolitische Interessen zurück. Doch um die Essenz des Sternenweges zu verstehen, reicht diese Einsicht nicht aus. Da muss es noch mehr geben. Denn: Erinnerungen an alte Kulte und politische Interessenkonstellationen vergehen, doch was macht die Faszination für den Sternenweg im Kern aus? Was ist es, dass dazu geführt hat, die Begeisterung für den Sternenweg über Jahrtausende zu erhalten und in unserer Zeit sogar in einer Weise aufleben zu lassen, dass nun tatsächlich Menschen von überall her „von Meer zu Meer wandernd dorthin pilgern“?

Auf dem Sternenweg in Asturien:

Alte und neue Pilger

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© Ralf Pochadt